Gibt es die »Möglichkeit einer Insel«? Der französische Schock-Literat Michel Houellebecq hat diese Frage im Titel eines 2005 erschienenen Romans aufgeworfen und verneint: Die Gesellschaft der Zukunft werde die »Insel«, dieses an das romantische Orplid erinnernde Refugium, nicht zulassen; keiner entkomme dem Heute.
Wo Houellebecq in die Ausweglosigkeit hinein erzählt, formuliert der Schaffhausener Schriftsteller Volker Mohr in seinem Roman Morgenland eine Alternative, gemäß dem Vers Hölderlins: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Regina murmelt die zuversichtliche Prognose vor sich hin. Sie hat in einer menschenleeren Stadt auch noch ihren Mann Philipp verloren, mit dem sie zuvor für ein halbes Jahr auf einer Insel lebte – abseits von allem Getriebe, um »den zu Hause Gebliebenen zu beweisen, daß man problemlos auf den gan zen Luxus verzichten konnte.« Und nun das! Zurück auf dem Festland keine Menschenseele mehr, die Häuser verlassen, als »wäre der Stift einer Uhr herausgezogen worden, um eine genaue Einstellung vorzunehmen«. Aber die Bewohner kehren nicht zurück. Erst viel später im Roman erfährt man, wohin es die Masse zog, wie sie verführt wurde und wie das Rettende wachsen könnte angesichts einer umfassenden Bedrohung.
Volker Mohr hat – wie schon mit seinem Roman Der Schlüssel – eine bedrückende Prognose gestellt. In Gedächtnisverlust und Bewußtseinszerfall sieht er die Ursachen für die Manipulierbarkeit ortloser Großstadtnomaden. Gerettet ist nur eine kleine Schar. Deren Angehörige vermögen gegen den Gang der Masse eine eigene Gehrichtung einzuschlagen: Sie bleiben souverän. Und es blüht in ihrem Refugium das Spiel. Daß nur im Spiel, im Rhythmus der Heiterkeit etwas gelingen oder sich fügen könne, ist wohl einer der Lieblingsgedanken Volker Mohrs, und dabei schaut ihm Friedrich Georg Jünger über die Schulter: Auch er hat das Lob des Spiels oft gesungen und der Gelassenheit einen hohen Stellenwert eingeräumt. Entscheidend an Mohrs heiterer Runde ist, daß dort keine Spaßvögel erwünscht sind. Denn im Spielen steckt eine Lebenslehre: Es dient nicht dem Fortschritt, nicht der Beschleunigung, nicht dem Konsum. Wer spielt, ist schon auf der Insel. Und ist nicht auch Reginas und Philipps Aufenthalt auf der Insel im Grunde ein Spiel gewesen, aus ökonomischer Sicht eine Unvernunft?
Morgenland ist ein Roman über die Möglichkeit, auf Inseln das zu erlernen, was auf dem Festland vonnöten sein wird. Damit ist nicht das Kochen mit Holz gemeint, sondern die Kunst, sich selbst aus dem Getriebe heraus- und innere Vorräte bereitzuhalten, wenn der schreckliche Morgen über dem Land anbricht. Man möchte dann zu denen gehören, die »noch vom eigenen Fundus zehren« können. Die »Insel« ist dabei vor allem ein inneres Reich: ein Bei-sich-sein, Identität.