Der Gebetsruf ist nach schariatischer Lehre eine der Besonderheiten des Islams; er ist der Ausdruck der Herrschaft des Islams über das Territorium, in dem er ertönt.

In dieser Funktion ist er der öffentlich bekundete Ausdruck der Lehren des Islams, durch die sich dieser, die einzige wahre, auf Allahs unmittelbarem Willen beruhende Daseinsordnung, von allen übrigen Religionen unterscheidet. Der Vollzug des rituellen Gebets, der wichtigsten Ritualpflicht des Muslims, bildet einen unmittelbaren und unauflösbaren Zusammenhang mit der islamischen Machtausübung. Dieser Sachverhalt wird von islamischer Seite ad nauseam in der Formel zum Ausdruck gebracht, der Islam sei Religion bzw. gottgegebene Daseinsordnung und Staat in einem. 

In der westlichen Publizistik hat man sich allerdings angewöhnt, von einem »politischen Islam« zu sprechen, dessen Vorstellungen und Idealen man das weitgehende Scheitern der Einfügung muslimischer Zuwanderer in die westliche Gesellschaft und in deren politische Zivilisation zuschreibt. Im Umkehrschluß würde das bedeuten, daß der unpolitische Islam, der ja existieren muß, wenn es einen politischen geben soll, dieser Einfügung keine Hemmnisse entgegensetze. Nun läßt sich schon bei oberflächlicher Kenntnisnahme der islamischen Geschichte ein solcher unpolitischer Islam nirgends finden. Wo immer Muslime an die Macht gelangten, begründeten sie diese Macht mit dem Handeln Mohammeds, der den ihm offenbarten Glauben als eine ihm durch Allah übertragene Herrschaft auffaßte und entsprechend entschlosssen, ja skrupellos gegen seine äußeren Feinde und gegen die Zweifler in den eigenen Reihen vorging. 

»Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht!« Diese Maxime ist unter radikal gesonnenen Muslimen weit verbreitet. Sie ist aber keineswegs eine Eigenheit »radikaler« Strömungen. Sie wird von ihnen nur offen ausgesprochen. 

In der tagtäglichen Ausübung der islamischen Daseinsordnung, etwa im rituellen Gebet und im Gebetsruf, wird diese Forderung stets implizit erhoben